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Leseprobe

LESEPROBE

DAS ZWEITE LEBEN DER NARREN

Menschen haben nur ein Leben. Diese Aussage ist banal. Aufregend wird sie jedoch, wenn wir uns ihre Konsequenz vor Augen halten: die Sehnsucht nach dem zweiten, dem anderen Leben. Die immer wieder hoch kommenden Fragen: Wie wäre das, wenn ich ein anderer wäre, noch würde? Wenn ich mich an Wegmarken meines Lebens anders entschieden hätte? Wenn ich in eine andere Familie, in einen anderen Stand, eine andere Religion, andere Landschaft hineingeboren worden wäre? Hätte ich gar als anderes Geschlecht auf die Welt kommen können? Es wäre schön, wir könnten das mal ausprobieren, so tun als ob. Doch die Mitwelt wird das nicht zulassen. Jedenfalls nicht, ohne uns befremdlich oder krank zu finden.

Wir Menschen können nicht „auf Probe“ leben. Alles was wir tun, hat Konsequenzen. Immer. Es sei denn, wir spielen. Was als Spiel deklariert wird, unterliegt nicht den Wenn-Dann-Folgen der Realität. Wo aber dürfen Erwachsene spielen, ohne als spinnert, krank oder lächerlich angesehen zu werden? Sie dürfen es dort, wo Spielregeln vereinbart sind, wo eine Gemeinschaft Rituale etabliert hat. Beispielsweise als Spiel mit der Maske. Alle Kulturen pflegten und pflegen es, und fast alle feiern das „Spiel der verkehrten Welt“. Ein närrisches Spiel. Das Maskenspiel schenkt uns ein „zweites Leben“, gleich vielfach. Es erlaubt eine Begegnung mit der Wirklichkeit, ohne uns vor ihr verantworten zu müssen. Es ermuntert uns, Fantasien von der Kette der Disziplin zu lösen, Sehnsüchten ohne den Druck der Verantwortung nach zu gehen. Einer Maske trägt man nichts nach.
Für fromme Menschen ist die Sehnsucht nach dem „zweiten Leben“ auf Erden undemütig. Christen warten auf die Erlösung. Narren haben damit nichts zu schaffen. Sie erlösen sich selbst. So jedenfalls wurde im Spätmittelalter die Narrenfigur in Wort und Bild gedeutet. Der Narr war der Gottesleugner, er war der Antichrist. Er lebte seine irdischen Sehnsüchte nur allzu menschlich aus – und verspielte dadurch sein Seelenheil. Eine Chance blieb den Toren: die Umkehr am Aschermitwoch. Heute mag den Kulturbürger weniger die Sorge um sein Seelenheil plagen als mehr die Sorge um Ansehensverlust, wenn er sich den kindlichen, mitunter triebhaften Sehnsüchten hingibt. Auch ihn rettet der Aschermittwoch. Er kann seine alternativen Lebensfantasien ohne Imageschaden ausleben, wenn er sie zuvor als zeitlich begrenztes, närrisches Spiel deklarierte. „Löblich ist ein tolles Streben, wenn es kurz ist und mit Sinn“, schreibt Goethe in der vierten Strofe seines Gedichtes „Der Cölner Mummenschanz“,1825. Will heißen, dass im tollen, im verrückten, im jecken Spiel Sinn liegt, wenn es Zeitbegrenzung („...kurz ist...“) und Regelwerk („...und mit Sinn“) einhält. Diese „Spielanleitung“ Goethes liegt auf der Linie seines bekannten Zitats „Freiheit kann das Gesetz nur geben“. Ausgelebte Sehnsüchte ohne Festphilosophie können rasch umkippen in eine Diktatur der Triebe und Egozentrik. Es wäre ein Widerspruch in sich, Sehnsüchte zu domestizieren. Aber die Spielkultur, in der sie sich entäußern, will gepflegt werden.
Humanforscher haben nachgewiesen, dass das Spiel die „Quelle von Selbstwirksamkeitserfahrung sowie der Kontext zum Erproben neuer Fertigkeiten, Problemlösungen und Beziehungserfahrungen ist“. Was über die Bedeutung des Kinderpiels gesagt wird, gilt auch für das Spiel mit der Maske: Es ist „eine höhere Form der Erfahrungsintegration als Grundlage von Kreativität, Kunst, Humor und Erfindung. Ein Mangel dieser Fähigkeit kann dagegen den Weg zum konservativen, ängstlichen Dogmatiker bahnen“. Deutlich wird an solcher Diktion, dass es nicht unpolitisch ist, wenn im Folgenden der Karneval primär psychologisch beschrieben wird.

Von der Logik eines unlogischen Fests

„Ach wär´ich nur ein einzig Mal...“ Ach was! Längst nicht alle Menschen wollen einmal Prinz Karneval sein. Aber alle möchten Bedeutung haben. Zumindest wünschen wir Anerkennung. Nicht immer wird uns die im Alltag gewährt. Vielleicht fänden wir mehr Beachtung, wenn wir schöner, sexy wären, wenn wir stärker, klüger, reicher wären? Aber nähme man uns das ab? Entfernen wir uns dann nicht aus vertrauten Rollen und verlassen gesichertes Terrain? Begehe ich nicht Verrat an meiner Herkunft, und droht von dort nicht der Schubs aus dem Nest? Oder sollte ich mich ganz dumm stellen? Wie ein Kind: nichts verantworten müssen, die Dinge laufen lassen? Ein dummer August hat nichts zu verlieren, und einem süßen Tollpatsch wird verziehen und geholfen. Die Wünsche nach Prinz und Prinzessin sind nur zwei von vielen in der Funduskiste unserer Sehnsüchte. Nur wenig ist beim Maskenspiel eindeutig. Manches ist gar gegensätzlich. So ist das auch mit den Sehnsüchten. Sie haben Kehrseiten. Neben der Freude über den Rollentausch liegt die Angst vor Geborgenheitsverlust. Ambivalenz nennt man die Gefühlsschwankung.
Ambivalenzen sind nicht populär. Lieber hätte man es eindeutig. Mehrdeutiges, gar Widersprüchliches zu akzeptieren, zur gleichen Zeit, fällt schwer. So richtet sich denn Unmut gegen die Wissenschaft, die sich mit Ambivalenzen beschäftigt. Beispielsweise die Tiefenpsychologie, sagt sie doch scheinbar Unsinniges. Etwa über den Traum. Menschen träumen, was sie wünschen – oder fürchten. Ja, was denn nun? Umgangssprachlich gehen wir mit der Mehrdeutigkeit durchaus vertraut um. Einen Begriff wie „Hassliebe“ akzeptieren wir trotz seiner semantischen Unlogik. Wir kennen eben das dazu gehörige Gefühl. Wir haben es erlebt, wie Beziehungen uns weiten - und einengen.
Was hat das mit dem Karneval zu tun? Der Karneval ist ein Phänomen, das nicht logisch erklärt werden kann, jedenfalls nicht mit der Logik, nach der 2x2 immer 4 ergibt. Insofern stellt sich auch nicht die viel bemühte Frage, was denn nun „richtiger Karneval“ sei. Gehört zu ihm der Lappenclown oder der Herr im Smoking? Trägt er Orden oder Pappnase, Larve oder Schminke? Geht „frau“ als ahl Möhn oder als verführerische Pussycat? Findet das Fest im Saal oder auf der Straße statt? Nichts ist hier eindeutig, 2x2 ergibt sowohl 5-1 als auch 3+1, manchmal auch 20:5. Alles nicht falsch, aber doch merkwürdig. Genau so merkwürdig, wie der Mensch, der heute an Heimweh und Morgen an Fernweh leidet. Aber den gibt es. Das Fest der Sehnsüchte erklärt sich nicht aus der üblichen Logik sondern aus der Logik der Psyche, der Psycho-Logik. Karnevalisten beäugen das oft skeptisch. Sie fürchten ihr schönes Fest könnte wissenschaftlich zerredet, ja diffamiert weden. Dazu besteht keine Sorge. Die Psychologie will nichts demaskieren. Allenfalls wird sie an der Maske anklopfen und fragen, ob ein Blick dahinter gestattet sei. Möglicherweise wird mancher der Befragten erstaunt antworten, er trage doch gar keine. Vielleicht findet er in den psychologischen Ausführungen sein zweites Gesicht.
Ein Karneval, der die eigene Mehrdeutigkeit aushält, darf sich auf Augenhöhe mit Aspekten von Religion und Literatur sehen. Auch sie thematisieren ambivalente Spannungsfelder. Vom Zwei-Staaten-Model des Augustinus, dem Dualismus von Trieb- und Kultur-Welt, vom Zähmen und Wildern wird beim Narrenfest ebenso zu reden sein wie von Goldmarie und Pechmarie im Märchen oder den zwei Seelen, ach! in einer Brust von Goethes Faust.

Die falsche Frage nach dem „richtigen Karneval“

Es gibt Fragen, die sind einfach falsch gestellt. Etwa die Frage, ob die Natur zum Wachsen Sonne oder Regen brauche. Solche Fragen offenbaren sich sofort als Unsinn. Oder fragen wir, ob zu einem barocken Schlosspark kunstvoll angelegte Beete und beschnittene Hecken oder urwüchsiger Wald gehören. „Beides“ lautet wieder die Antwort. Im Gartenbereich unmittelbar am Schloss wurden nach barocker Stilauffassung Pflanzen in geometrische und ornamentale Formen gepresst während im erweiterten Grünbereich alles andere als zierliche Buchsbäumchen wuchsen. Stets schloss ein Wald, der der Jagd diente, die Gesamtanlage ab. Die Spannung zwischen Natur und Kultur, zwischen Trieb und Kontrolle durchzieht alle Lebensaspekte, denen Menschen sich widmen. Unser Tun spiegelt die Spannung unserer Seele. Wir gestalten unsere Welt scheinbar widersprüchlich, weil wir vielfältigen Sehnsüchten anhängen und die damit einhergehenden unterschiedlichen Ängste bewältigen wollen. Einleuchtend und griffig hat das der Psychoanalytiker Fritz Riemann in einem Buch dargestellt, das zu den Klassikern der Fachliteratur zählt: „Grundformen der Angst“.
Riemann zeigt zwei Gegensatzpaare auf, die unsere Lebensprozesse leiten. Einerseits streben wir nach einem Höchstmaß an Individualität und Unabhängigkeit. Andererseits wünschen wir die Nähe zu anderen, wollen lieben und geliebt werden. Diese Strebungen setzen wiederum komplementäre Ängste frei. Die Sehnsucht nach Selbstwerdung fürchtet Abhängigkeit und einengende Bindungen. Die Sehnsucht nach Geborgenheit fürchtet Einsamkeit und Isolation. Sie will Trennungs- und Verlustängste vermeiden. Das andere Gegensatzpaar heißt Streben nach Dauer und Ewigkeit einerseits, Streben nach Veränderung und Bewegung andererseits. Auch hier gibt es wieder komplementäre Ängste. Unser Absicherungsdenken fürchtet Ungewissheit und Vergänglichkeit und meidet das Wagnis. Unserer Wunsch nach Weiterentwicklng fürchtet Stillstand und Erstarrung und meidet die Festlegung.

Karneval – das ist die Probebühne für die Begegnung mit den jeweils anderen, den versteckten Facetten und Gegenpolen unserer Identität. Im Spiel der verkehrten Welt dürfen wir sie aufleben lassen. Ängstliche dürfen etwas wagen, Konservative können vorpreschen, die ewig Unrastigen dürfen im Heimathafen sentimental Anker werfen, Gutmenschen könnten mal egoistisch auf die Sahne hauen und der sonst so auf distanzierte Selbstverwirklichung Bedachte lässt sich im seligen Schunkelgefühl vom Nachbarn plötzlich einhaken. Nicht immer geschieht das so idealtypisch. Aber immer bietet der Karneval dazu die Chance. In der vom Brauchtum geschützten Nische dürfen auch Große noch mal so tun, als ob sie klein wären. Sie dürfen noch mal neu starten. Vielleicht sind wir ja doch von Adel? Vielleicht verfügen wir ja doch über den Schneid der Musketiere, über den Verführungscharme einer Carmen? Vielleicht hat man uns doch ,wie das Königskind im Märchen, nach der Entbindung vertauscht?
Doch nicht nur die versteckten und kontrastierenden Anteile unserer Identität erproben sich auf der Karnevalsbühne. Der niederländische Soziologe und Fastnachtsforscher Theo Fransen, mit der europäischen Narrenwelt bestens vertraut, bringt einen weiteren Aspekt mit ein. Er geht über das Klischee vom Ausbruch eines „zweiten Ichs“ unter der Maske hinaus. Er fand in seinen Studien heraus, dass der „Superkarnevalist“ das ganze Jahr über das Leben zu genießen versteht – und an eben Karneval besonders. Das Fest dient ihm weniger als Kontrast als vielmehr der verherrlichenden Steigerung seines Lebensgefühls, der Apotheose. Theo Fransen: „Unter der ´sozialen Oberhaut, die drei Tage lang wie beim Chamäleon die Farbe wechselt, verbirgt sich nicht jemand, der seine normale Identität verleugnet, sondern vielmehr jemand, der drei Tage lang seine Identität optimiert. Diese Apotheose oder besser noch Methamorphose muss, um erfolgreich sein zu können, kurz und kräftig bleiben; sie darf nicht viel länger dauern als die ursprünglichen drei oder vier Tage.“
Da zieht jemand am Abend als stolzer Gardist in der Uniform seines Korps auf die Bühne, und bei anderer Gelegenheit lebt der gleiche Mensch Albernheiten im Clownsgewand aus. Als Motivation sind beide Aspekte denkbar: der Wunsch, einem sonst nur verstecktem Persönlichkeitsanteil freie Bahn zu lassen, wie auch der Wunsch, einem ohnehin ausgepägten Charakterzug auf einer noch größeren Bühne unzensierten Raum zu geben. Beides befriedigt das Maskenspiel. Beides hat Platz in Fastnacht, Fasching, Karneval. Weil der Karneval sich aus vielschichtigen und wechselnden Sehnsüchten speist, ist es falsch, nach dem „richtigen Karneval“zu fragen. Richtig sind jedoch immer zwei Merkmale von definitorischem Charakter: Das Spiel muss zeitlich begrenzt sein, und es muss in einer Gemeinschaft gespielt werden. Mag sich auch mancher in einer selbstverliebten Eigeninszenierung gefallen, so ist das Spiel mit der Verkleidung stets interaktiv. Die Maske will dem Du begegnen. Sie will dahin, wo „die anderen“ sind: auf die Straße, in die Wirtshäuser, in die Säle. Es mutet eher krank als närrisch an, säße jemand in voller Kostümierung allein vorm Fernseher, um sich „Mainz bleibt Mainz“ anzuschauen.



Im Folgenden wird illustriert und beschrieben, welche Sehnsüchte im Fest nach Erfüllung streben und wie sie sich dazu Bühnen oder Nischen suchen. Aneinander gereiht werden sie sich wie Gegensatzpaare lesen, beispielsweise wenn der Sehnsucht nach Ausgelassenheit die nach der Melancholie folgt. So wechselbadig ergeht es den Narren während ihrer Session, und so kennen wir es von unseren eigenen Lebensläufen.




SEHNSUCHT NACH AUSGELASSENHEIT

Urlaub! Der Zauber dieses Worts liegt nicht allein im Faulenzen und Verreisen begründet. Die Anpassung an fremde Landschaften kann auch anstrengend sein. Urlaub heißt vor allem Abschalten, raus aus der Alltagsdisziplin, raus aus der Verantwortung. Wir kleiden uns anders, essen und sprechen anders, lachen anders. Manche lachen überhaupt erst wieder nach einer langen Zeit verkrampfter Selbstkontrolle. Dass wir es zu Kulturbürgern gebracht haben, ist ja schön und gut, meist verdanken wir diesem Umstand unsere Existenz. Doch er bedeutet auch Anstrengung: Pass auf, was du sagst, wem du was sagst, wie du was sagst – du hast was zu verlieren! Mal eben nur so daher plappern, Quatsch machen – diese Tage sind seit Kinderzeiten vorbei. „Bumms faldera“ ist nicht mehr.
Menschen im Urlaub erkennt man nicht nur an ihrer Kleidung, sondern auch daran, dass sie unvernünftig, zuweilen albern sind. Und treffen ein paar Gleichgesinnte unter Einfluss von Sonne oder Alkohol zusammen, dann singen sie. Nach dem Text wird nicht gefragt. Griffige Floskeln, kindliche Silben – Hauptsache, raus damit! Laut. „Jetzt geht´s los!“
Es gehört sich für einen Kulturbürger, Urlaub á la „Ballermann“ zu verteufeln. Das ist nachzuvollziehen, wenn damit das zunehmende Ballermann-Niveau in der gesamten Freizeit- und Unterhaltungskultur beklagt wird. Doch schütten wir das Kind nicht mit dem Bade aus. Es muss ja was dran sein, wenn diese Art von Primitivität Menschen fasziniert. Nennen wir es ruhig so: primitiv. In der Umschreibung der Wortbedeutung klingt es weniger anrüchig: ursprünglich, urzuständlich. Keiner rümpft die Nase, wenn der Studienrat mit seiner Familie Camping macht und Luftmatrazen und Gaskocher einem Hotelservice vorzieht. Keiner findet es primitiv, wenn die Art-Direktorin ein Survival-Training im Busch bucht, was ja nichts anderes bedeutet, als den Überlebenskampf mit primitivsten Mitteln – und für teures Geld - zu trainieren. Und manche Manager mögen immer noch hoffen, eine Urschrei-Therapie mache sie selbstbewusst und durchsetzungsstark.
Mit dem beschriebenen Urlaubsverhalten sind Sehnsüchte verbunden, die auch der Karneval abdeckt. In der Welt der Narren ist die Etikette der Kulturwelt aufgehoben. Nach unseren Einlassungen zur „Ambivalenz“ im Einleitungskapitel wissen wir ja, das es kein Widerspruch ist, wenn wir an anderer Stelle lesen werden, dass die bürgerliche Etikette im Karneval auch hoffiert und geradezu operettenhaft hoch stilisiert wird. Ein Narr muss auf nichts Rücksicht nehmen. Er kann toben, schreien, rülpsen, furzen – wieviele Witze drehen sich nicht allein um Blähungen und „abgehende Winde“. Er darf „die Sau raus lassen“. Vor allem kann er sagen, was er will, erst recht singen. Er darf sein eigener Chef sein und dabei auf die Pauke hauen. Im Rheinland haut er auf die „decke Trumm“, und die spielt bekanntlich alles, was sich nicht wehrt. In der Schweizer Fastnacht tobt er sich in der schräg-schönen Guggenmusik aus. Auch deren zerbeulte Trööten und Schlagwerkbatterien scheuen vor nichts. Der „Karnevals-Urlaub“ ist kein „Urlaub vom Ich“, wie ihn die Reisebranche propagiert. Das Ich bleibt Handelnder. Es nimmt aber seine unbekannteren Anteile mit, lässt ihnen mal den Vortritt.
Karneval feiern gleicht dem Urlaub machen, für Stunden, für drei tolle Tage, mitunter auch für sechs lange Sessionswochen. Aber stets für eine begrenzte, eine vereinbarte Zeit. Goethe spricht in seiner Beschreibung des „Römischen Carnevals“ vom „Zeichen“, das gegeben werde, „dass jeder so töricht und toll sein dürfe, als er wolle, und dass außer Schlägen und Messerstichen fast alles erlaubt sei“. „Let´s go Roma, loss mer maache, wat mer welle!“ hätten die Paveier ihren Hit umtexten können. Solch ein Urlaub braucht keine lange Anreise. Eine Verkleidung genügt. Wer alemannische Fasnet-Freunde, etwa in Offenburg die Hexen oder in Rottweil die Federhannesse, agieren sieht, der spürt die Wirkung der Vollmaske. Hinter der Larve ist schließlich selbst die Stimme „verkleidet“. Doch nicht zu unterschätzen sind rheinische Minimal-Requisiten wie Pappnase und Co. Auf Seniorensitzungen erstaunt es, welch eruptive Wirkung allein von einer ins Haar geflochtenen Serviette ausgehen kann und zu welcher Kühnheit eine ins Knopfloch gesteckte Nelke animieren kann.
Am wirkungsvollsten animiert Gesang. Ein gemeinsames Lied ist das Ticket, das uns schnell in andere Gemüts-Regionen bringt. Dabei ist es müßig darüber zu philosophieren, ob es wirklich Lied-„gut“ ist. Was früher mit Volkslied-Status aus der „Mundorgel“ geschmettert wurde („Die ganze Affenbande brüllt: Wer hat die Kokusnuss geklaut?“), das kam und kommt aus den Diskotheken als „My Baby balla balla“, „Heyyyy, heyhey Baby...uh...ah...“. Oder im Karneval als „Humbta,humbta,humbta tätärää“, „Bier un nen Appelkorn schalalalala“, „Olala, wisse tu eine Pizza?“. Mitunter ergänzt das Publikum das Werk der Komponisten und füllt mit ausgestoßenen Lauten und Brüllern die Leerstelle einer Melodie, etwa mit „Zick, Zick, Zick eröm“ im Klassiker der Bläck Fööss „Drink doch eine mit“, oder dem explosiven „Hoi“ im Narrenmarsch der Buchener Huddelbätz (Odenwald),. Was in Wanderliedern („Hei ho, heiho heiho“) als Tradition des Anti-Zivilisatorischen gepflegt wurde, dient heute womöglich der Vorbeugung gegen Zivilisationskrankheiten. Wer ein „Ole´!“ heraus schmettert, frisst nichts in sich hinein. Vielleicht ein Schutz vor Magengeschwüren?
Ballermänner und Narren grölen zuweilen die gleichen Lieder. Sie unterscheiden sich jedoch in dem, was sie vorher und nachher tun. Ballermänner müssen weiter grölen. Narren sehnen sich nach einem Wechsel mit den Gemütszuständen, wie sie in den weiteren Kapiteln beschrieben werden.



SEHNSUCHT NACH MELANCHOLIE

Fragen wir Karnevalisten nach ihrem „Jahrhundertschlager“, ist ein Teil des Ergebnisses vorhersehbar. In Mainz wird garantiert „Heile, heile Gäns`che“ dabei sein. In Köln werden mit Sicherheit „In uns´rem Veedel“ und „Ich mööch zo Fooß noh Kölle jonn“ genannt. Und im übrigen Deutschland singt man auf dem Höhepunkt der Stimmung immer noch gerne „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Das sind sämtlichst keine Partyknaller, eher ruhige, gar besinnliche Stücke. Als der Kölner Stadt-Anzeiger in der Session 2003 eine Kneipenumfrage nach den aktuellen Lieblingsliedern anstellte, betitelte er das Ergebnis so: „Melancholisch muss es sein“ . Erstaunlich? Eigentlich nicht.
Wer im Karneval nur die Heiterkeit, nur das Lachen und laute Gebrüll sieht, der verwechselt das Fest mit Comedy oder Stimmungsklamauk. Darstellungen von Clowns zeigen beides: den breiten, lachenden Mund und die Träne im Auge. In der Tradition des antiken Theaters, das uns Masken von Komödie und Tragödie überlieferte, steht ein Zitat des großen Filmregisseurs Billy Wilder. Er sagte: „In jeder komischen Situation steckt auch eine traurige – und umgekehrt.“ Lachen und Weinen liegen als die frühesten Affektäußerungen des Menschen nahe bei einander. Eine gute Karnevalssitzung wird daran gemessen, dass beide angerührt werden. Neben dem Wunsch nach Lachen und Ausgelassenheit will der Feiernde auch ein melancholisches, ein sentimentales Moment befriedigt wissen. Das muss nicht plakativ und schon gar nicht mal langatmig einher kommen. Auf dem Höhepunkt der Stimmung schleicht sich der Gedanke an die Endlichkeit aller Lust ein: „Ach, wie bald vergeh´n die schönen Stunden!“( aus: „So ein Tag, so wunderschön wie heute“; Text: Walter Rothenburg). Doch auch das Wissen um unsere eigene Endlichkeit schwingt mit. Ein „memento mori“ – „Mensch bedenke, dass du sterben musst“ - durchzieht viele der ganz großen und beliebten Karnevalslieder: „Un deit d´r Herrjott mich ens rofe“ (2.Strofe aus Willi Ostermanns „Heimweh nach Köln“), „Wenn du dann eines Dachs am Himmelspöözje steihs“ (3. Str. aus Fritz Webers „Ich bin ´ne kölsche Jung“), „Komm ich an dem gewissen Tor dann an“ (3. Str. aus dem Düsseldorfer Walzer „Altstadt-Laterne“ von Alex Eberhardt).
Was die Medien als Karneval verkaufen, sind überwiegend karnevaleske Stimmungskracher. Eine karnevalistische Veranstaltung hingegen wird immer einen Hinweis auf den Aschermittwoch des Lebens einbeziehen. Das geschieht nicht mit tief trauriger Ansage, eher immanent und immer mit der Ermunterung zum „carpe diem“ – „nutze den Tag!“. Die Verse, die das bekannte Lied vom Aschermittwoch einleiten, rufen zum Leben in der Gegenwart auf, bevor die Mahnung vor dem Aschermittwoch kommt, an dem alles vorbei ist: „Trinke die Freude, denn heut´ist heut´. Das was erfreut, hat noch nie gereut. Fülle mit Leichtsinn dir den Pokal: Karneval, Karneval! Hast du zum Küssen Gelegenheit, Mensch dann geh ran mit Verwegenheit! Sag niemals nein, wenn das Glück dir winkt. Bald das Finale erklingt: Am Aschermittwoch...“ (Text: Hans Jonen, Musik: Jupp Schmitz). Es mag sein, dass hinter solchen Liedern die Angst steht, die uns im dunklen Wald laut pfeifen lässt. Der Karneval vermittelt das „memento mori“ nicht um seiner selbst willen, sondern um uns an die Kostbarkeit des Augenblicks zu mahnen: „Freu dich, wenn do noch jet laache kanns! Freu dich, wenn do noch jet singe kanns! Freu dich üvver jede Kleinigkeit, denn et Levve durt kein Iwigkeit“.

In einer durch und durch rationalen, technisierten Welt bleibt kein Platz für die Melancholie, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Wir haben gefälligst cool und clever zu sein. Im Job das Pokerface und in der Freizeit jot drop – so sehen Erfolgsmenschen aus. Sie machen die Nacht zum Tage, versichern sich gegen Unbill des eigenen Körpers und der Natur, sie bleiben jung und haben Erfolg. Nachdenklichkeit, Selbstzweifel oder sentimentale Anmutungen sind nicht vorgesehen. „Ich bin doch nicht krank.“ Wer so denkt, geht tapfer durchs Leben. Zuweilen nur überfordert er sich damit. Und er verwehrt sich die tröstende Erfahrung, dass auch andere die melancholische Talsohle durchschreiten. Auch andere kennen die „blaue Stunde“ ihres Lebenslaufs, auch sie haben ihre Selbstzweifel und Ängste. Der gesellschaftliche Rahmen lässt für solche Empfindungen wenig Luft. Man delegiert sie lieber an die Praxen der Psychotherapeuten. Die Musik gehört zu den wenigen öffentlich zugänglichen Foren, die der Melancholie Simme und Gestalt gibt. In der leichten Muse besorgt es der Herz-Schmerz-Schlager, in der Klassik tun es so tieftraurige Lieder wie die von Gustav Mahler oder Schuberts Winterreise. Das ist nicht jedermann zugänglich, nicht jedermanns Sache. Vor allem bleibt es beim passiven Hören. Und man bleibt für sich allein, auch wenn tausend andere im Konzertsaal sitzen.
In der Wehmut aktiv und Gemeinschafts bezogen zu bleiben ist eins der wirkungsvollsten Antidepressiva. Diese Möglichkeit zu sehen und zu nutzen unterscheidet den „Ballermann“ vom Karneval. Wer die Dauer-Party feiert, ignoriert die Endlichkeit aller Lust. Im Wiederholungszwang betäubt er die Erkenntnis, dass der Spaß vorbei geht. Fastnachter und Karnevalisten leugnen diese Erkenntnis nicht. Sie ist ihnen während der gesamten Feier unterschwellig bewusst, sie ist vielleicht die wichtigste Antriebsquelle für den zelebrierten Frohsinn. Der Karneval bedient mit der Sehnsucht nach Melancholie einen Archetypus, also eine Empfindung, die allen Menschen eingängig ist, unabhängig von ihrer regionalen Festkultur. Die fastnachtliche Brauchgestaltung ist zwar sehr unterschiedlich, je nachdem, ob man etwa am Ober-, Mittel- oder Niederrhein feiert. Die Melancholie angesichts unserer Begrenztheit aber wird hier wie dort empfunden und karnevalistisch thematisiert.
In Basel rühren versprengte, oft nur als Zweiergruppe umherziehende Trommler und Pfeifer nach dem „Moorgestraich“ besonders an. In den Höhepunkt des Festes stimmt das Wissen um sein baldiges Ende mit ein. Es hat etwas von der Melancholie, die Erwachsene am Heiligen Abend befällt, einsehend, dass die Gefühle der als Kind erlebten Weihnacht unwiederbringlich bleiben. Hannes Veraguth nennt seine Emotionsbeschreibung der Baseler Fastnacht „Trommel- und Seelenrühren am Morgenstreich“ und führt darin aus: „Wehmutsgefühle entstehen, wenn das Gegenwärtige nicht mehr mit dem Bild übereinstimmt, das man von der Vergangenheit in sich trägt.“. Die Mainzer Narren machten vom Mittelrhein aus den schon erwähnten Tag, der „so wunderschön wie heute“ ist, im Lied bundesweit bekannt. Dessen Einleitungsverse sind Abschiedswehmut pur: „Schau nur in die Sterne, die am Himmel steh´n. Ach ich blieb so gerne und muss nun leider geh´n.“. In Köln widmeten u.a. Höhner („Vorbei is vorbei“) und Bläck Fööss der Abschieds-Wehmut Lieder. „Kriesch doch nit, wenn et vorbei es. Denk leever dran, wie schön die Zick doch wor“, so beginnt der Refrain bei den Bläck Fööss. Er endet wie eine Mundart-Übersetzung des bekannten Gedichtes „Stufen“ von Herrmann Hesse, dem zu folge in jedem Abschied ein Neubeginn liegt: „Et jitt nix, wat me´r halde kann un hängk di Hätz och noch su draan. Ohne Abschied fing nie jet Neues aan.“ Wohlgemerkt: die Rede ist immer noch vom Karneval!
Das melancholische Karnevalslied, besser gesagt: das Mundart-Lied (der Karneval gibt ihm lediglich die Bühne) kann Brücken schlagen zu einer Seite in uns, die heute vielleicht mehr der Ventil Öffnung bedarf als die laute Seite in uns: Wehmut, Sentimentalität, Besinnlichkeit. Geöffnet wird das Ventil durch den Gesang. Wichtig ist, dass gemeinsam gesungen wird, mitunter auch vom robusten Sound eines Spielmannszugs unterstützt. Die Gemeinsamkeit ist deswegen wichtig, damit wir mit der Wehmut nicht allein bleiben. Beim gemeinsamen Singen haken wir uns ein, spüren Körperkontakt, erleben die Verschmelzung der eigenen mit der kollektiven Melancholie. Wir thematisieren sie, bleiben aber nicht in ihr stecken. Wir überwinden sie in der gemeinsamen, fröhlichen Feier. Mitunter wird dann aus einer tieftraurigen Ballade über die tragische Liebe zweier junger Menschen eine fröhliche, rheinische Mitklatsch-Hymne. So wie das Lied vom „Treuen Husar“, das einst im zarten Dreivierteltakt aus Österreich an den Rhein kam.Auch Goethe wurde unter den Narren melancholisch, sagen wir besser: nachdenklich. Unter der Überschrift „Aschermittwoch“ resümiert er seine römischen Karnevalserlebnisse:
„Und so hätten wir, ohne selbst daran zu denken, auch unser Carneval mit einer Aschermittwochsbetrachtung geschlossen, wodurch wir keinen unsrer Leser traurig zu machen fürchten. Vielmehr wünschen wir, Daß jeder mit uns, da das Lebeben im Ganzen, wie das Römische Carneval, unübersehlich, ungenießbar, ja bedenklich bleibt, durch diese unbekümmerte Maskengesellschaft an die Wichtigkeit jedes augenblicklichen, oft gering scheinenden Lebensgenusses erinnert werden möge.“